Leseprobe aus "Der Rosenmagier I - Verschwörung im Wolkenschloss"
Das Aufnahmeritual
Es war ein anstrengender Aufstieg. Stufe um Stufe kletterte Pirino hinter seinem Vater her und geriet dabei gehörig außer Atem.
Als sie endlich durch eine kreisrunde Öffnung im Boden das Wolkenschloss betraten, wusste er kaum, wohin er zuerst schauen sollte.
Sie standen in der prächtigsten Halle, die er je gesehen hatte. Der Fußboden und die zwölf schlanken Säulen, welche den Raum umstanden, waren aus strahlendweißem Marmor und mit Mosaiken verziert, die in allen Regenbogenfarben glitzerten. Aus einem Brunnen, der wie eine Rose geformt war, stieg ein Wasserstrahl auf und fiel leise plätschernd in ein breites goldenes Becken zurück. Die Wände waren mit kostbar bestickten Teppichen behängt. An freien Stellen schimmerte rote Seide.
„Oh, Vater“, flüsterte Pirino, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. „Es ist wunderbar. Dass es so etwas Schönes geben kann …“ Kunstvoll gearbeitete Lampen tauchten den Saal in warmes Licht. An jeder der vier Wände entdeckte er eine mit Schnitzereien verzierte Tür. „Darf ich mir alles ansehen? Das ganze Schloss?“
Ohne die Zustimmung seines Vaters abzuwarten drehte er sich nach rechts.
Die Tür, auf die er zulief, schwang geräuschlos auf. Zwei Männer betraten die Halle.
Pirino musste sich das Lachen verkneifen.
Obwohl beide in vornehme silberne Gewänder gekleidet waren, sahen sie reichlich komisch aus.
Der eine war hochgewachsen und dürr. Er hatte eine lange spitze Nase und vorstehende Zähne, was ihm Ähnlichkeit mit einem Wiesel verlieh.
Der andere war klein und fett. Auf seinem Vollmondgesicht, aus dem die Augen hervorquollen, lag ein dümmlicher Ausdruck.
„Ah“, grunzte er. „Stadtrichter Romerto, wenn ich … äh … nicht irre.“
Romerto nickte.
„Wie dem auch sei“, sagte der Wieselgesichtige, wobei er etwas mit der Zunge anstieß. „Ihr werdet bereits erwartet. Folgt mir.“ Er wies zu der Tür, durch die er und der Fette gerade gekommen waren.
Als sie den breiten Gang betraten, blickte Pirino sich neugierig um..
Auch hier gab es verzierte Säulen und herrliche Statuen.
Dann ging es eine Marmortreppe hinauf, deren Stufen so spiegelblank und glatt waren, dass er fast darauf ausrutschte.
Die Männer führten sie durch einen Saal, dessen Fußboden schöne Einlegearbeiten zeigte. Durch das große Fenster entdeckte er eine der Terrassen, die er von der Stadt aus so oft bewundert hatte. Am liebsten wäre er sofort hingerannt, um ein wenig dort draußen herum zu streifen.
„Ein Jammer, dass Danilo und die anderen Jungen nicht hier sind“, rief er begeistert. „Na, die werden Augen machen, wenn ich ihnen alles erzähle. Hier könnte man herrlich Nachlaufen und Verstecken spielen …“
Der Hagere drehte sich halb zu ihm um und musterte ihn geringschätzig. Das ärgerte ihn so, dass er ihm verstohlen die Zunge herausstreckte. Unglücklicherweise schaute in diesem Moment der Fette über die Schulter zurück. Er stieß das Wieselgesicht an und flüsterte ihm etwas zu. Im Laufen sahen sie sich beide um und bedachten den Jungen mit finsteren Blicken.
Pirino spähte schuldbewusst zu seinem Vater, doch dieser hatte nichts bemerkt.
Schließlich öffnete der Dicke eine hohe Tür aus poliertem dunklem Holz.
Sie betraten einen weiteren Saal, der trotz seiner Wandgemälde und kunstvollen Kerzenleuchtern, düster wirkte.
Im Kamin brannte ein niedriges Feuer. Davor, in einem mit dunklem Leder bezogenen Sessel, saß ein massiger Mann in einer gleißend goldenen Robe. Sein graues Haar war straff zurückgekämmt. In der rechten Hand hielt er einen gedrehten goldenen Stab mit einem funkelnden roten Kristall an der Spitze.
„Stadtrichter Romerto und … äh … sein Sohn“, meldete der Dicke, bevor er und das Wieselgesicht den Raum durchschritten und rechts und links neben dem Sessel Aufstellung nahmen.
Pirino sah sich unbefangen um. „Was tun wir hier? Wer ist das, Vater?“
Wieder erhielt er keine Antwort.
Das Gesicht des Stadtrichters war aschfahl. Er schwankte.
„Oberpriester Valbredo“, sagte er und seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. „Hier ist mein Sohn Pirino, den ich heute in Eure Obhut gebe, damit er künftig dem ehrwürdigen Rosoboziom-Orden als Novize dient.“
Pirino fuhr zusammen. Er starrte seinen Vater ungläubig an. „Was? Novize? Ich?“
Der goldgekleidete Mann erhob sich und trat auf sie zu. Über sein breites Gesicht glitt ein zufriedenes Lächeln. „Gut, sehr gut“, sagte er sanft. „Eine kluge Entscheidung, mein Bester.“ Dabei betrachtete er Pirino, als wolle er ein Pferd begutachten, das man ihm zum Kauf angeboten hatte.
Pirino wurde es ungemütlich. Ängstlich sah er von einem zum anderen. „Das kann nur ein Spaß sein. Nicht wahr, Vater, das ist es doch? Du wolltest mir einen Schrecken einjagen, weil ich in letzter Zeit so ungezogen war …“
Keiner der Männer beachtete ihn.
Der Oberpriester wies mit einer herablassenden Geste zur Tür. „Mit dem heutigen Tag ist Eure Aufgabe an diesem Jungen erfüllt. Ihr könnt Euch entfernen.“
„Vater!“, schrie Pirino.
Doch der Stadtrichter wandte sich wortlos ab und verließ den Saal, ohne ihn noch einmal anzusehen.
Pirino fühlte sich, als hätte er einen Schlag in die Magengrube erhalten. Er wollte seinem Vater nachstürzen, prallte aber erschrocken zurück, als ihm zwei gewaltige Gestalten in den Weg traten. Sie waren in enganliegende schwarze Beinkleider und braune Lederkittel gekleidet. An ihren Gürteln hingen Peitschen mit kurzen, breiten Riemen. Pirino stieß einen Schreckenslaut aus. Die Kreaturen hatten keine menschlichen Köpfe, sondern die riesenhaften Augen und Fühler von Wespen. Sie klickten furchterregend mit ihren gewaltigen zangenähnlichen Beißwerkzeugen.
„Was in aller Welt ist das?“ stammelte er. „Was geht hier vor?“
Er wirbelte herum, als er eine schwere Hand auf seiner Schulter spürte.
Das Lächeln des Oberpriesters war noch breiter geworden, seine schmalen grauen Augen allerdings zeigten keinerlei Wärme. „Nun, mein Sohn, mir scheint, es ist an der Zeit, dass wir uns besser kennenlernen.“
Pirino schüttelte ihn ab. „Ich wüsste nicht, wozu“, entgegnete er trotzig. „Sagt diesen … diesen Dingern, dass sie mich durchlassen sollen. Ich will kein Novize werden.“
Die silbergekleideten Männer kamen näher.
Der Dicke knurrte etwas in sich hinein, aus dem lediglich die Worte „… wird sich noch wundern …“ zu verstehen waren.
„Wie dem auch sei“, ließ sich das Wieselgesicht vernehmen. „Ein halsstarriger Bursche. Ich fürchte, der wird uns noch Ärger bereiten, ehrwürdiger Valbredo.“
„Lasst das meine Sorge sein.“ Oberpriester Valbredo deutete mit seinem goldenen Stab auf Pirino, dann gab er den Wespenmenschen ein herrisches Zeichen. „Bereitet ihn für das Aufnahmeritual vor.“
„NEEEEIIIIN“, brüllte Pirino, als die Kreaturen ihn an den Handgelenken packten. „Lasst los, ihr verdammten Biester!“ Er wand und sträubte sich aus Leibeskräften, doch die Geschöpfe drehten ihm die Arme so brutal auf den Rücken, dass er laut aufheulte. „Au! Hört auf, ihr tut mir weh! Auuuu!“ Er hatte keine Wahl, er musste nachgeben. Die abscheulichen Wesen würden ihm eher die Knochen brechen, als ihn loszulassen.
Die Wespenmänner schleiften ihn aus dem Saal. Verzweifelt hoffte Pirino, dass sein Vater vor der Tür wartete, um ihn vor den Kreaturen zu retten. Stattdessen waren dort noch mehr Wespenmenschen. Offenbar wimmelte es im Schloss von diesen Wesen.
Pirinos Kopf ruckte hoch, als er ein unheimliches Rauschen vernahm. Über ihnen kreiste ein Schwarm etwa rabengroßer Vögel mit schmutziggrauem Gefieder und stechenden Augen. Aus ihren langen, gebogenen Schnäbeln drang ein raues Krächzen, das für Pirino wie Hohngelächter klang. Eines der Flügeltiere stieß auf ihn herab, als ob es ihn angreifen wollte. Pirino schrie vor Angst auf. Gleich darauf schrie er noch ein zweites Mal, als er erkannte, dass das Geschöpf außer seinen Flügeln die muskelbepackten Arme eines Menschen besaß. Auch die kräftigen Beine und Füße waren unverkennbar menschlich.
Schaudernd kniff Pirino die Augen zu.
Seine Bewacher klickten mit ihren Beißwerkzeugen.. Er spürte, dass sie ihn eine Treppe hinunter brachten. Anschließend ging es durch ein Labyrinth von Gängen.
Plötzlich blieben die Wespenmenschen stehen und gaben seine Arme frei. Pirino blinzelte. Er stand in einem kleinen Raum, der beinahe vollständig von einem kreisrunden Becken ausgefüllt wurde.
Unruhig sah er auf das schwarze Wasser, während er seine schmerzenden Handgelenke rieb. „Was soll ich hier? Wozu habt ihr mich … ahhhh!“
Bevor er wusste, wie ihm geschah, bekam er von hinten einen derben Knuff. Er stolperte vorwärts und stürzte kopfüber in das Bassin. Prustend und spuckend tauchte er auf. Er versuchte, sich am Beckenrand hochzuziehen. Die Wespenmänner stießen ihn zurück.
„Lasst mich sofort raus“, keuchte Pirino, als er sich wieder an die Oberfläche gekämpft hatte. Er begann, mit den Zähnen zu klappern. Das Wasser war eiskalt. „Hört ihr schlecht? Ich will raus.“
Doch erst als er noch zwei weitere Male mit dem Kopf untergetaucht war, gestatteten seine Bewacher ihm, ins Trockene zu klettern.
Pirino zitterte. Nie zuvor hatte es jemand gewagt, so mit ihm umzuspringen. Wenn er sich nur für diese Demütigung hätte rächen können!
Als ihm die Wespenmänner allerdings zu verstehen gaben, er solle seine triefenden Kleider ausziehen und stattdessen einen einfachen grauen Leinenkittel überstreifen, gehorchte er, ohne Widerstand zu leisten.
Erneut packten ihn die Wespenmenschen mit eisernem Griff und schleppten ihn durch den Palast. Sie führten ihn in die Mitte eines runden, mit schwarzglänzendem Stein ausgekleideten Saals. Die wenigen Kerzen, die in den Leuchtern an den Wänden brannten, sorgten für ein flackerndes, unwirkliches Spiel aus Licht und Schatten.
Männer und Frauen in silbernen und weißen Roben waren in dem Raum versammelt. Die zu unzähligen dünnen Zöpfen verflochtenen Haare hingen ihnen weit den Rücken hinunter. Das konnten nur die Priesterinnen und Priester des Rosoboziom-Ordens sein.
Oberpriester Valbredo, der Wieselgesichtige und der Fette traten auf ihn zu. Valbredo gab den Wespenmännern einen Wink, worauf sie den Saal verließen.
Mit ernsten Mienen schlossen die Priester einen Kreis um Pirino. Eine hagere Frau in einem fließenden goldenen Gewand wurde neben Valbredo und seine beiden Gehilfen geführt. Ihr Gesicht war ausdruckslos, ihr Blick leer. Zwei Priesterinnen stützten sie von beiden Seiten, als wäre sie nicht in der Lage, allein zu stehen.
Aller Augen waren fest auf Pirino gerichtet.
Die Angehörigen des Ordens begannen langsam, um ihn und die Priester herum zu schreiten. Ruckartig ließ Valbredo seinen goldenen Stab auf Pirino zu schnellen und vollführte eine rasche, kreisende Bewegung. Der Fette und der Wieselgesichtige beschrieben die gleiche Geste mit ihren Händen und murmelten unverständliche Worte.
Um Pirino stieg eine blendend helle Wand aus Licht auf.
„Pirino, Sohn des Romerto“, hallte Valbredos Stimme durch den Raum. „Du bist vor der hohen Versammlung erschienen, weil du Aufnahme in den ehrwürdigen Rosoboziom-Orden begehrst.“
„Oh nein, ganz und gar nicht“, wollte Pirino protestieren. Doch er brachte kein Wort heraus. Er versuchte, sich umzudrehen, aus dem flimmernden Lichtkreis zu fliehen, aber er konnte keinen Muskel bewegen.
Die Priester stimmten einen gleichförmigen Singsang an.
„Pirino, Sohn des Romerto“, rief Valbredo. „Du bist bereit, dem ehrwürdigen Rosoboziom-Orden mit Leib und Leben, mit Herz und Seele zu dienen und selbst den Tod nicht zu scheuen.”
„Nein … nein …“ Pirinos Gegenwehr, mit der er gegen den Bann ankämpfte, wurde schwächer. In seinem Kopf breitete sich eine sonderbare Leere aus.
Der Gesang der Priester schwoll an. Hinein mischte sich eine Frauenstimme mit einem langgezogenen, hohen, klagenden Ton.
„Pirino, Sohn des Romerto“, schrie Valbredo. „Du gelobst feierlich, dem ehrwürdigen Rosoboziom-Orden zu dienen und ihm die Treue zu bewahren, solange du lebst.“
Es war Pirino unmöglich, den Blick von dem geschliffenen Kristall an der Spitze des goldenen Stabes abzuwenden, der durch die Lichtwand hindurch strahlte.
Das geheimnisvolle Flimmern lähmte seinen Willen.
Er vergaß, dass er nach Hause wollte, zu seinem Vater, seinen Freunden.
Auf die Worte des Oberpriesters konnte es nur eine Antwort geben.
Wie aus weiter Ferne hörte er sich sagen: „Ich gelobe es.“
Ein ohrenbetäubender Donner ertönte.
Valbredo durchschlug mit seinem Stab die lodernde Lichtwand.
Die Spitze traf Pirinos rechte Schulter. Gepeinigt schrie er, dass seine Kehle schmerzte. Der Kristall war heiß wie glühendes Eisen.
Die Stimmen der Priester erreichten ihren Höhepunkt.
Ein weiterer Donnerschlag dröhnte durch den Saal.
Die Lichtwand leuchtete grell auf und verschwand. Das Singen und die Beschwörungsformeln verstummten.
Pirino sackte in sich zusammen. Der Raum drehte sich vor seinen Augen und seine Schulter brannte. Ganz allmählich ließ die merkwürdige Benommenheit nach, die von ihm Besitz ergriffen hatte.
„Pirino, Sohn des Romerto“, schreckte die Stimme von Oberpriester Valbredo ihn auf. „Du hast das Aufnahmeritual durchlaufen und bist von dieser Stunde an Novize des ehrwürdigen Rosoboziom-Ordens. Dein Gelübde verpflichtet dich dazu, fleißig und gehorsam zu sein und jede Aufgabe zu erfüllen, die deine Lehrherren dir zuteilen. Du wirst jedem Mitglied des Ordens Respekt erweisen und danach streben, dir die Weisheiten zu Eigen zu machen, an denen sie dich teilhaben lassen. Wenn man dich für würdig befindet, wirst du im Alter von sechzehn Jahren zum Priester geweiht …“
„Niemals!“ schrie Pirino. Er rappelte sich auf. Erst jetzt wurde ihm klar, dass das unheimliche Zeremoniell kein wirrer Traum gewesen war. Um den Mund des Oberpriesters spielte ein triumphierendes Lächeln. Der Fette und der Wieselgesichtige wirkten schadenfroh. Pirino verlor den letzten Rest seiner Beherrschung. Die Wut über die erniedrigende Behandlung brach mit aller Macht aus ihm heraus. Er spuckte Valbredo ins Gesicht. „Niemals werde ich Euch gehorchen!“
Ein empörtes Murmeln lief durch den Raum. Die Priester steckten die Köpfe zusammen und deuteten auf Pirino. Der Dicke schnappte vernehmlich nach Luft.
„Wie dem auch sei, eine solche Unverschämtheit ist überhaupt noch nie dagewesen“, rief der Wieselgesichtige aufgebracht.
Valbredo hingegen ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Tz tz tz“, machte er und wischte die Spucke weg. Einen Augenblick lang musterte er Pirino nachdenklich. Dann begann er erneut zu lächeln. „Möglicherweise wirst du ein wenig Zeit brauchen, bis du die Ehre begreifst, die dir heute widerfahren ist“, sagte er samtig. „Bald schon wirst du dich unseren Regeln und Gebräuchen mit Freuden unterwerfen.“ In seinen Augen erschien ein stahlharter Ausdruck. „Doch zuvor musst du geläutert werden.“