Leseprobe aus "Julias Ferien oder Die drei kleinen Igel und die wundersame Insel"
Die verpatzte Ferienreise
Julia konnte die Sommerferien kaum erwarten.
Zum ersten Mal wollten die Eltern mit ihr verreisen.
Schon Monate vorher kannte Papa kaum noch ein anderes Thema.
„Als ich ungefähr so alt war, wie du, hat mein Vater mich auf eine Bergwanderung mitgenommen. Das werde ich nie vergessen! All die Blumen und Tiere, die wir tagsüber gesehen haben. Und nachts haben wir in Almhütten geschlafen. Das würde dir auch Spaß machen!“
„Schaut euch mal an, was ich hier gefunden habe: eine Flussfahrt auf der Donau! Würde es dir gefallen, eine Woche lang auf einem Boot zu wohnen, Julia?“
„Was haltet ihr von der Bretagne? Die Küste dort ist atemberaubend ...“
Jeden Tag kam er mit neuen Ideen, die er ihnen in den leuchtendsten Farben ausmalte.
„Du bist ja aufgeregter, als Julia“, zog Mama ihn manchmal auf. „Allmählich sollten wir eine Entscheidung treffen, sonst ist womöglich alles ausgebucht, wenn wir hinkommen.“
„Ach was, Entscheidung“, rief Papa großartig. „Am Schönsten ist es doch, wenn wir einfach ins Blaue hinein fahren. Ihr werdet sehen: das wird ein richtiges Abenteuer!“
Und dann, knapp eine Woche, bevor es losgehen sollte?
„Hör mal, Julia“, meinte Papa beim Abendbrot. „Du bist doch schon groß und vernünftig. Ich muss dir was sagen.“
„Was denn?“
„Mein Arbeitskollege hat sich gestern ein Bein gebrochen.“
„Ja, und?“ Julia fragte sich, was das mit ihr zu tun hatte.
„Solange er krank ist, kann ich keinen Urlaub nehmen.“
„Und unsere Reise?“, rief Julia ängstlich.
Papa druckste herum. „Ich fürchte, die fällt erst einmal ins Wasser. Schau, es wird Wochen dauern, bis mein Kollege wieder ins Büro kommt und bei dem Personalengpass in unserer Firma …“
Julia hatte keine Ahnung, was dieser Zungenbrecher bedeutete: Personalengpass. Es war auch unwichtig.
Ihre Lippen begannen zu zittern. „Du hast versprochen, dass wir wegfahren. In die Berge, oder auf den Fluss, oder ans Meer! Du hast gesagt, wir erleben Abenteuer … ich hab mich so drauf gefreut …“
„Ich weiß, Mäuschen.“ Papa zog die Schultern hoch. „Ich bin selbst enttäuscht. Aber ich kann es doch nicht ändern. Pass auf, ich versuche, in deinen Herbstferien ein paar Tage frei zu bekommen. Dann können wir da was Nettes unternehmen.“
„Ich will aber jetzt verreisen und du hast es versprochen!“ Jetzt kullerten Julia bereits dicke Tränen über die Wangen.
„Es tut mir wirklich leid“, sagte Papa. „Aber warte nur, unser Abenteuer läuft uns schon nicht weg. Nächstes Jahr klappt es bestimmt …“
„Das glaub ich dir nicht“, schrie Julia. „Ich glaub dir überhaupt nichts mehr! Nie mehr!“
„Komm schon, Julia, wir können uns doch auch hier eine schöne Zeit machen“, schaltete sich Mama sanft ein. „In unserem Garten erholen wir uns bestimmt besser, als an einem überfüllten Strand. Und am Wochenende, wenn Papa frei hat, gehen wir mal ins Schwimmbad, oder in den Zoo, oder machen sonst was Tolles …“ Sie wollte Julia über den Kopf streicheln, aber die sprang wütend auf und stürmte aus der Küche.
Die Ferien begannen – und es war noch schlimmer, als Julia es sich vorgestellt hatte.
Keine einzige ihrer Freundinnen war zu Hause.
Papa fuhr morgens ins Büro und kam abends müde zurück.
Mama war den ganzen Tag im Haus und im Garten beschäftigt.
Von all den tollen Ausflügen, die die Eltern ihr in Aussicht gestellt hatten, war auch keine Rede mehr.
Die erste Ferienwoche nahm und nahm kein Ende. Julias Laune wurde mit jedem Tag schlechter.
„Ich gehe gleich Erdbeeren pflücken. Willst du mir helfen?“, schlug Mama geduldig vor, als Julia wieder einmal missmutig am Küchentisch hockte. „Oder wie wäre es, wenn du dich ein bisschen um dein kleines Beet kümmerst? Da könntest du mal wieder Unkraut rupfen und anschließend gebe ich dir ein paar Blumen, die du einpflanzen kannst. Was meinst du, wie hübsch das dann aussieht. Nimm deine Puppen mit hinaus, die können dir dabei zuschauen.“
Julia schüttelte den Kopf. „Keine Lust.“ Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch. „Kannst du mir einen Computer kaufen? So einen, wie die Stacy und die Amanda aus meiner Klasse ihn haben, mit Spielen drauf?“
Mama winkte ab. „Was willst du denn mit so einem Ding? Ich finde, dafür bist du noch viel zu klein.“
„Bin ich gar nicht“, brauste Julia auf.
„Mit acht Jahren braucht man keine Gameboys oder Playstations oder wie dieses ganze Zeug heißt“, beharrte Mama. „Schlimm genug, dass du ständig vor dem Fernseher klebst! Lies lieber das schöne Buch, das Tante Hella dir zum Geburtstag geschenkt hat, daran hast du bestimmt mehr Freude …“
„Du bist gemein!“ Julia sprang auf. Ihr Stuhl kippte um und krachte zu Boden. „Verreisen darf ich nicht, fernsehgucken darf ich nicht, einen Computer kriege ich auch nicht. Ich hab’s ja gleich gewusst: das ist der furchtbarste Sommer meines Lebens!“
Julia verkroch sich in ihrem Zimmer. Mit bitterböser Miene starrte sie aus dem Fenster.
Als Mama nach ihr rief, gab sie keine Antwort.
Auch beim Mittagessen saß sie stumm auf ihrem Platz und rührte kaum einen Bissen an, obwohl es Spaghetti mit Tomatensoße gab und hinterher Quark mit frischen Erdbeeren.
Mama sollte ruhig sehen, wie sie unter diesen verpatzen Ferien litt!
Doch am Abend kam Papa in Julias Zimmer.
„Na, mein Mäuschen?“, meinte er munter. „Findest du nicht, dass du allmählich lange genug Trübsal geblasen hast? Es ist doch schade, wenn du dir deine Ferienwochen so verdirbst!“
Julia schnaubte. „Mir ist halt so langweilig“, nörgelte sie. „Ich weiß überhaupt nicht, was ich machen soll.“
„Dann geh doch ein bisschen in den Garten“, schlug nun auch Papa vor.
Julia verdrehte die Augen. „Da ist es doch genauso langweilig wie hier drinnen“.
„Was?“, rief Papa erstaunt. „Langweilig? Ja, weißt du denn gar nicht, dass unser Garten verzaubert ist?“
Jetzt musste Julia lachen. „Glaube ich dir nicht. Verzaubert - so ein Quatsch!“
Papa schüttelte den Kopf und machte ein ganz ernstes Gesicht.
„Unser Garten steckt voller Wunder und Geschichten. Man muss sich nur richtig danach umschauen.“
Gegen ihren Willen wurde Julia neugierig. Trotzdem sagte sie noch einmal: „Glaube ich nicht! Wo sollen denn da Geschichten sein?“
„Wollen wir danach suchen?“, fragte Papa.
Endlich rutschte Julia von der Fensterbank herunter. „Meinetwegen.“
Sie gingen in den Garten hinaus und schlenderten den Weg entlang.
„Na, und wo sind nun deine Geschichten?“, meinte Julia spöttisch, als sie einmal bis zum Zaun und wieder zurück gegangen waren.
Papa legte lächelnd den Finger auf die Lippen. „Die werden wir schon entdecken“, sagte er. „Was glaubst du denn, wer in unserem Märchen vorkommen könnte?“
Ohne große Begeisterung schaute sie bald auf diese, bald auf jene Seite vom Gartenweg, auf die Blumenbeete, auf den Teich und auf die Obstbäume.
Auf der Terrasse vor der Hecke saßen drei kleine Igel aus Plastik. Mama hatte sie vor einigen Wochen gekauft und dort hingesetzt, weil sie fand, dass sie so drollig aussahen.
Gönnerhaft deutete Julia auf die Tierchen. „Die da, die können mitspielen.“
„Sehr gut.“ Papa nickte zustimmend. Er nahm die Igel, trug sie auf die Wiese und setzte sie vor ein Blumenbeet. Im Schneidersitz hockte er sich davor. Julia ließ sich neben ihn fallen.
Und dann begann Papa zu erzählen:
Die drei kleinen Igel
Vor nicht allzu langer Zeit, an einem nicht allzu fernen Ort, lebten auf einer großen Waldwiese drei kleine Igel. Sie hießen Schnüffel, Puck und Balduin. Sie waren immer vergnügt und führten ein lustiges Leben.
Auch an diesem Abend waren sie gerade aus ihrem Häuschen in einem großen Blätterhaufen gekrochen und begannen, miteinander zu spielen.
„Balduin, Puck! Fangt mich doch, fangt mich doch!“, rief Schnüffel. Lachend lief er über die Wiese.
„Na warte, dich kriegen wir“, brummte Balduin.
Schon rannten die beiden hinter ihm her - rechts und links, über Stock und Stein und kreuz und quer.
Schnüffel war flink und versteckte sich hinter einem Stein. Gerade wollte er weiterlaufen, um sich ein neues Versteck zu suchen, als er ein fremdes, sehr merkwürdiges Geräusch hörte. Erschrocken blieb er stehen.
„Ha, jetzt haben wir dich!“, schrien Puck und Balduin und sprangen auf ihn zu.
Schnüffel schüttelte abwehrend den Kopf. „Seid mal still! Hört ihr das auch?“
Die drei Igel lauschten.
„Was ist das?“, fragte Puck ängstlich.
„Das klingt komisch“, stellte Balduin fest.
Damit hatte er recht!
Es klang, als würden große Steine gegeneinander geschlagen. Dann mischte sich auch noch ein schreckliches Kreischen und ein furchtbar lautes Knattern in das Geräusch. Näher und näher kam der Lärm und wurde immer lauter.
„Was ist das nur?“, wiederholte Puck.
„Schaut doch“, rief Schnüffel aufgeregt. „Da kommt was!“
„Was kam denn?“, unterbrach Julia ihren Vater.
Dieser sprang auf.
„Warte mal“, rief er. „Ich bin gleich wieder da.“
Er rannte zum Haus. Kurz darauf kam er mit mehreren Mülltüten, einer Rolle Tesaband, einer Schachtel Filzstifte und zwei Blättern zurück.
„Was soll das denn werden?“, fragte Julia geringschätzig.
„Wart’s ab“, schmunzelte Papa.
Er lief zur Hecke und wühlte aus dem Holzstapel, der daneben lag, zwei große Aststücke hervor. Dann fing er an, eifrig zu malen. Julia schaute ihm über die Schulter. Zwei schiefe, giftgrüne Augen entstanden da, ein großes, rotes Maul mit riesigen Zähnen ...
„Was soll das denn werden?“, fragte sie noch einmal.
„Ach, Schätzchen, lauf doch bitte mal eben ins Haus und hol deine und meine Handschuhe. Die schwarzen. Sie müssen im Garderobenschrank liegen“, sagte Papa, ganz in seine Malerei vertieft.
Julia verstand die Welt nicht mehr. Was wollte Papa mitten im Sommer mit Handschuhen? Aber sie trabte los.
„Hier“, rief sie schon von der Terrasse her und schwenkte die Handschuhe. „Was hast du damit vor?“
Statt einer Antwort meinte Papa: „Mach mal einen Moment die Augen zu. Aber nicht blinzeln, ja?“
Julia kniff die Augen zusammen. Sie hörte, wie Papa mit den Mülltüten raschelte und knisterte.
„Darf ich wieder gucken?“, fragte sie ungeduldig.
Papa nahm sie bei den Schultern und drehte sie zur Hecke um.
„Huh!“, machte Julia unwillkürlich. „Huh!“
Papa zog sie wieder neben sich ins Gras und erzählte weiter:
Am Waldrand tauchten zwei riesengroße, hässliche Ungeheuer auf. Ganz schwarz waren sie und hatten furchtbar lange Zähne und unheimlich große Mäuler.
Mit entsetzten Augen starrten die drei kleinen Igel die Geschöpfe an.
„Was machen die denn da?“, stieß Schnüffel hervor.
„Sie reißen das ganze Gras raus!“, jammerte Puck.
„Und beißen alle Bäume durch!“, rief Balduin.
Verzweifelt mussten die drei Freunde zusehen, wie die beiden hässlichen Ungeheuer den Wald und ihre Wiese zerstörten.
„Schaut, da laufen die Hasen weg!“, schrie Schnüffel.
„Und da die Eichhörnchenfamilie!“, fiel Puck ihm ins Wort.
Balduin deutete in die entgegengesetzte Richtung. „Und da die Füchse!“
Ja, alle Tiere des Waldes flohen vor den schrecklichen Geschöpfen. Nur unsere drei kleinen Freunde standen noch wie erstarrt auf ihrem Platz. Und die Ungeheuer kamen immer näher.
Endlich rief Balduin: „Los, kommt! Wir müssen auch weglaufen und uns verstecken!“
Hals über Kopf rannten die drei Igel davon.
Erst in einiger Entfernung wagten sie es, stehenzubleiben und sich umzusehen.
Was sie da erblicken mussten, war fürchterlich!
Die Ungeheuer zerrissen und zerbissen alle Bäume und Büsche. Sie rupften das Gras heraus und zertrampelten es. Die Tiere, die nicht rechtzeitig hatten fliehen können, wurden niedergewalzt und zerquetscht. Dann bedeckten sie das Land mit spitzigen, grauen Steinen.
Kein Halm, kein Kräutchen, kein Blatt war übriggeblieben.
Kein Tier ließ sich mehr sehen, kein Vogel sang mehr.
Aus der schönen, blühenden Wiese war eine steinerne, staubige Wüste geworden.
Lange starrten die drei kleinen Igel auf das Bild der Zerstörung. Sie wollten kaum glauben, dass dieser Steinhaufen noch bis vor wenigen Stunden ihre Heimat gewesen war.
„Sie haben alles kaputtgemacht“, sagte Balduin schließlich.
„Was mag nur aus unseren Freunden geworden sein?“, fügte Puck leise hinzu. „Meint ihr… meint ihr, dass sie alle tot sind?“
Die anderen schwiegen.
„Was sollen wir denn jetzt machen?“, fragte Schnüffel nach einer Weile bedrückt. „Hier können wir nicht bleiben!“
Sie sahen sich ratlos an.
Puck fasste sich als Erster. „Wir müssen in die Welt ziehen“, meinte er bestimmt.
Balduin schüttelte zweifelnd den Kopf. „Wohin denn? Am Ende kommen die bösen Ungeheuer uns nach.“
Schnüffel kam Puck zu Hilfe. „Irgendwo werden wir schon ein Plätzchen finden, wo wir bleiben können.“
„Wir dürfen nur nicht den Mut verlieren“, fügte Puck hinzu.
„Meint ihr wirklich?“, murmelte Balduin.
„Ganz bestimmt!“, bekräftigten seine Freunde. „Wenn wir nur zusammenhalten.“
Zusammenhalten?
Ja, zusammenhalten - das wollten sie nun!
Und so zogen sie miteinander los.
„Die sind aber gemein gewesen, diese Dinger“, sagte Julia empört und warf den beiden verkleideten Baumstämmen einen bösen Blick zu. „Dass die einfach so alles kaputtgemacht haben!“
Papa nickte. „Da hast du recht“, gab er zu. „Aber leider passiert es auch in unserem Leben immer wieder, dass solche Wesen auftauchen und schöne Wälder und blühende Wiesen einfach mit grauen Steinen bedecken.Sie sehen dann nur ein bisschen anders aus.“
„Du meinst Bagger und so was“, sagte Julia sofort.
Erst vor einem Jahr hatte sie miterlebt, wie eine kleine Wiese am Ende der Straße, auf der sie manchmal mit ihren Freundinnen Ball gespielt oder Drachen hatte steigen lassen, aufgerissen, eingeebnet und in einen Parkplatz verwandelt wurde.
Papa nickte traurig.
„Aber wie geht es nun mit den Igeln weiter?“, fragte Julia ungeduldig. „Wo sollen die jetzt hin?“
„Na, wir wollen mal schauen“, sagte Papa und stand auf.
In diesem Moment rief Mama vom Haus: „Julia, komm herein! Du musst ins Bett.“
„Ooooch“, machte Julia. „Gerade jetzt! Kann ich nicht später...“
Aber Papa sagte: „Nein, nein! Die drei kleinen Igel müssen sich ohnehin erst einmal ausruhen, nach so viel Aufregung. Wir werden morgen erfahren, ob sie eine neue Bleibe finden.“ Augenzwinkernd fügte er hinzu: „Vielleicht kann dir der Garten ja sogar schon selbst etwas davon verraten.“