Leseprobe aus "Der Esel Cosidesimo"
In Ungnade
Actes Verletzung sorgte für ziemlichen Wirbel.
Der Tierarzt, Umberto, die zuständigen Tierpfleger, sogar einige der anderen Artisten – alle scharten sich um die Stute, hätschelten und tätschelten sie und veranstalteten mit ihr ein großes Theater.
„Es ist nur eine oberflächliche Wunde“, stellte Doktor Siegmar fest. „Sie hat Glück gehabt.“ Ein allgemeines erleichtertes Aufatmen folgte seinen Worten, das sofort in mitfühlendes und bestürztes Murmeln überging, als er hinzufügte: „Ein paar Tage Ruhe braucht sie allerdings. Keine Arbeit in der Manege!“
„Das hat mir gerade noch gefehlt.“ Umberto bekam einen schmalen Mund. „Übermorgen sollte das Gastspiel bei dem Weihnachtszirkus losgehen. Was mache ich denn jetzt? Acte hält die Nummer zusammen.“
„Hast du nicht ein anderes Pferd, das die Führung übernehmen kann?“, fragte Godric Macfarlan von der schottischen Kunstreiterfamilie.
Umberto nickte. „Schon, aber mit Ariga …“ Er seufzte resigniert. „Außerdem ist die ganze Choreographie auf sechs Pferde aufgebaut.“
„Und dein Ersatzpferd?“
Die Sorgenfalten auf Umbertos Stirn vertieften sich. „Abigail macht gute Fortschritte, nur ist es eigentlich noch zu früh für sie, in der Gruppe aufzutreten, vor allem mit einer unerfahrenen Leitstute. Also gehe ich entweder ein gewaltiges Risiko ein, oder ich muss die Abläufe umstellen und mit fünf Pferden anreisen. Aber dann kann es mir passieren, dass das Publikum enttäuscht ist. Wenn ich Pech habe, wirft mir der Veranstalter Vertragsbruch vor und kürzt mir die Gage.. Ich könnte natürlich versuchen … aber das wäre …“
Seine Stimme verlor sich in undeutlichem Murmeln, während er weitere Möglichkeiten durchspielte, seine Nummer zu retten.
Mano scharrte unbehaglich im Stroh. Seit er aus dem Auslauf geholt und in den Stall zurückgebracht worden war, spürte er die Feindseligkeit der Zirkusleute, die wie eine Glocke über seiner Box zu hängen schien. Ach, er wusste längst, dass es ein unverzeihlicher Fehler gewesen war, Acte anzugreifen. Jetzt hatte er alle gegen sich – und es war seine eigene Schuld …
„Was wird aus dem Esel?“
Mano blickte auf, als er die warme, freundliche Stimme hörte. An seiner Boxtür stand der Mann mit den Bällen, der von den meisten Zirkusleuten Cosimo genannt wurde. Er betrachtete ihn nachdenklich, fast ein wenig besorgt.
„Quelle question“, ereiferte sich sofort Danielle Margieux, die Zebra-Dresseurin. „Was für ein dumme Frage. La bête sauvage … die wilde Bestie muss weg!“
„Leicht gesagt“, knurrte Godrick Macfarlan. „Wer will schon so einen Satansbraten, der andere Tiere lahmschlägt …“
„Genug davon“, machte Umberto dem Gerede unwirsch ein Ende. „Jetzt muss ich erst einmal sehen, dass ich das vermaledeite Gastspiel einigermaßen anständig über die Bühne bekomme. Alles andere kann warten, bis ich zurück bin.“
Umberto reiste am folgenden Tag mit den fünf gesunden Arabern und der jungen Stute Abigail ab. Mano hatte er seit dem Zwischenfall kaum eines Blickes gewürdigt.
Die Tierpfleger fütterten ihn und hielten seine Box sauber, striegelten auch sein Fell, waren bei diesen Arbeiten aber griesgrämig und schweigsam.
Die anderen Artisten machten einen Riesenbogen um seine Box, gerade als fürchteten sie, er würde ausbrechen und sich auf sie oder ihre Tiere stürzen, wenn sie nur in seine Nähe kamen.
Acte behandelte ihn seit seinem Ausraster sowieso wie Luft. Ihre Wunde heilte gut, aber sie war beleidigt, weil das Gastspiel ohne sie stattfand, und das ließ sie ihn spüren. Mano fühlte sich einsam und unglücklich.
„Mach dir keine Sorgen, kleiner Esel.“ Cosimo schob seine Hand durch die Gitterstäbe und kraulte ihm die Mähne. „Im Moment regen sich alle noch auf, aber das gibt sich. Und bald ist Umberto zurück, dann wird alles besser …“
Cosimo kam auch in den folgenden Tagen, kraulte ihn, murmelte etwas Freundliches, steckte ihm dann und wann auch etwas Brot oder einen Apfel zu.
„Was wollen Sie eigentlich ständig im Stall?“, fragte Stallmeister Sauer misstrauisch. „Sie haben doch kein Tier hier stehen?“
„Spricht denn etwas dagegen, dass ich ab und zu nach dem kleinen Esel schaue?“, entgegnete Cosimo höflich. „Wenn Ihnen das lieber ist, können wir natürlich Umberto … ich meine, Herrn Lini anrufen und fragen. Ich dachte nur, dass es unnötig ist, ihn wegen so einer Kleinigkeit bei seinem Gastspiel zu stören …“
Stallmeister Sauer brummte etwas Unverständliches, ließ Cosimo von da an aber zufrieden.
Mano fing an, sich auf die Besuche zu freuen.
Er spürte schon Minuten vorher, dass Cosimo sich auf den Weg zu ihm machte. Er erkannte dessen Geruch und dessen Schritte, sobald er den Stall betrat. Freudig begann er zu tänzeln und drängte zur Boxtür. Wenn Cosimo dann bei ihm stand und ihn streichelte, schnoberte und grunzte er vor Wohlbehagen.
„Weißt du, was ich nicht verstehe?“, meinte Cosimo eines Morgens. „Warum machst du Umberto derartige Schwierigkeiten? Du bist du doch so ein lieber kleiner Esel.“
Ein lieber kleiner Esel … so hatte ihn noch niemand genannt! Mano rieb seinen Kopf an den Gitterstäben.
Eines der Pferde, die den Macfarlans gehörten, wieherte hämisch. „Oh ja, sehr lieb!“
„Und klug!“
„Und folgsam!“, fielen prompt die anderen mit ein.
Selbst Acte brach ihr eisiges Schweigen. „Der Stolz vom ganzen Zirkus!“
Mano zuckte zusammen. Seine Muskeln verkrampften sich, sein Schwanz peitschte. Er entspannte sich erst wieder, als Cosimo ihm erneut sanft die Ohren kraulte.
Kurz darauf war Umberto wieder da, zufrieden und stolz.
Das Weihnachtsgastspiel war ein voller Erfolg gewesen. Ariga hatte die Gruppe mit überraschender Sicherheit durch die Nummer geführt, Abigail sich hervorragend eingepasst … Jedenfalls war das Publikum begeistert gewesen und hatte donnernd applaudiert. Ein Vertrag für die kommende Saison war auch schon abgeschlossen.
In seiner beschwingten Stimmung gab er sogar Mano einen freundschaftlichen Klaps: „Na, Kleiner, wollen wir zwei es noch einmal miteinander versuchen?“
Mano hatte tatsächlich die besten Absichten. Er wollte sich anstrengen, braver sein, zeigen, dass er weder störrisch, noch bösartig war.
Doch kaum stand er in der Manege, waren seine guten Vorsätze vergessen.
Es war alles wie vorher – Umberto, der ihn im Kreis führte, Paolo, der mit sauertöpfischer Miene die Longe hielt und gelegentlich mit der Peitsche knallte …
Mano stemmte die Hufe in den Sand und weigerte sich, auch nur einen Schritt weiter zu gehen.
Umbertos gute Laune verflog. „Schluss, aus!“, blaffte er endlich. „Ich geb’s auf.“
„Ich immer gesagt“, meldete sich Paolo zu Wort. „Esel …“
„Ja, ja, ja, behalt’s für dich. Mach lieber Acte fertig, die muss vorsichtig wieder mit dem Training anfangen.“
Missmutig stiefelte Paolo davon.
Umberto löste die Longe und wickelte sie langsam auf. „Tja, Mano, das war deine letzte Chance.“
„Und jetzt?“ Cosimo tauchte hinter der Balustrade auf. „Willst du ihn wirklich loswerden?“
„Welche andere Wahl habe ich denn?“ Umberto zuckte bedauernd die Schultern. „Seit ich ihn gekauft habe, bin ich mit ihm keinen Schritt weitergekommen.“ Er streckte die Hand aus, um Mano leicht über den Rücken zu streichen. Dieser wich unwillkürlich zur Seite. Umberto nickte bitter. „Da! Siehst du, was ich meine? Ob ich also jemals mit ihm eine Nummer zustande bringe, steht in den Sternen oder noch weiter weg. Wenn ich nur wüsste, was er gegen mich hat. Und weshalb er auf Acte losgegangen ist …“
Cosimo räusperte sich. „Mir ist da kürzlich was aufgefallen … vielleicht war es nur ein Zufall …“
„Was denn?“
„Könnte es sein, dass dein Esel etwas gegen Pferde hat?“
Umberto zog zweifelnd die Augenbrauen hoch, ließ ihn aber ausreden.
Mano spitzte die Ohren, als Cosimo die Szene im Stall beschrieb. Natürlich hatte dieser die giftigen Bemerkungen der Pferde nicht verstanden, doch die Spannung, die zwischen ihnen herrschte, sehr genau gespürt.
„Ich weiß wenig von Tieren“, schloss Cosimo. „Aber irgendwie habe ich bei dem Kleinen da das Gefühl, dass ihm einfach eine gehörige Portion Selbstvertrauen fehlt. Vielleicht, weil er sich immer wieder den Vergleich mit Pferden gefallen lassen muss, schon früher auf dem Hof, von dem er stammt, und jetzt auch hier …“
Mano geriet in helle Aufregung. Auch wenn Cosimo meinte, keine Ahnung von Tieren zu haben – ihn verstand er besser, als jeder andere Mensch, der ihm bis jetzt begegnet war! Wie in den letzten Tagen im Stall, stupste er ihn an. Cosimo fuhr ihm über die Nase.
Umberto lachte säuerlich. „Als nächstes sagst du noch, dass sich der Esel weigert, mit mir zu arbeiten, bloß weil ich eine Pferde-Nummer habe?“
Cosimo breitete die Hände aus und verzichtete auf eine Antwort.
Mano dagegen trippelte auf der Stelle. „Genau so ist es“, iahte er, selbst verblüfft über diese Erkenntnis.
„Und wenn du recht hättest“, fuhr Umberto fort. „Es ändert nichts daran, dass ich ihn so bald wie möglich abgeben muss. Fragt sich nur, an wen. Da hat Macfarlan leider recht. Privatleute sind eine unsichere Sache. Vor allem kaufen die ungern von Artisten. Im Zirkuszoo ist kein Platz für ihn – ich habe Direktor Callini schon danach gefragt. Von den Kollegen will ihn erst recht niemand …“
„Schade um den hübschen Kerl.“ Cosimo starrte gedankenvoll vor sich hin.
Manos Herz machte einen Satz.
Durfte er glauben, was er in Cosimos Blick las?
Oder … nein, jetzt schlich sich bereits wieder ein Zweifel ein.
Sollte er …
Mano baute sich vor Cosimo auf und sah ihm direkt in die Augen. Er legte alle Eindringlichkeit, zu der er fähig war, in seine stumme Frage: „Darf ich bei dir bleiben?“
Cosimo kratzte sich im Nacken. „Du wirst mich für verrückt halten. Ich überlege nämlich gerade, dass ich den Kleinen gerne haben würde. Zumindest, wenn du nicht gar zu viel für ihn verlangst“, fügte er rasch hinzu.
„Du?“ Umberto schaute verdutzt drein. „Du hast doch noch nie mit Tieren gearbeitet.“
„Stimmt. Aber dein Eselchen hier ist was Besonderes. Den Eindruck hatte ich schon, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe …“
Mano trabte einmal um die Männer herum, wobei er laut iahte, um gleich darauf seinen Kopf an Cosimos Schulter zu reiben.
„Was Besonderes …“ Umberto schwankte zwischen Lachen und Ärger. „Das kann man laut sagen.“
„Also, was meinst du?“
In komischer Verzweiflung hob Umberto die Arme zum Himmel. „Was wohl? Ihr beide habt die Sache anscheinend bereits unter euch ausgemacht. Na schön, mir soll’s recht sein. Über den Preis werden wir uns sicher einig.“
„Ich danke dir.“ Cosimos Gesicht strahlte. „Du wirst es bestimmt nicht bereuen.“
Umberto winkte ab. „Schon gut. Ich muss jetzt mal rüber zum Stall und Paolo auf Trab bringen. Der sollte längst mit Acte hier sein.“ Er stapfte auf den Ausgang zu. Über die Schulter rief er zurück: „Nach dem Training können wir die Formalitäten erledigen.“
Als Umberto gegangen war, nahm Cosimo Manos Kopf zwischen seine Hände und sah ihn freundlich an. „Na, mein Junge, jetzt gehören wir beide zusammen. Und soll ich dir was sagen? Genau das habe ich mir schon die ganze Zeit gewünscht.“
„Ich mir auch“, schnoberte Mano glücklich.
„Wir wollen gute Freunde werden, nicht wahr?“
„Das sind wir doch längst!“
Cosimo kraulte ihn hinter den Ohren. Dann murmelte er: „Mano … eigentlich passt das gar nicht zu dir. Das klingt so ernst und düster. Was hältst du davon, wenn ich dir einen neuen Namen gebe?“
Ein warmes Gefühl durchströmte den Esel.
Mano … bisher hatte er sich über seinen Namen keine Gedanken gemacht. Jetzt war er für ihn gleichbedeutend mit Zurücksetzungen und grenzenlosen Enttäuschungen. Die aber gehörten zu seinem alten Leben, das er gerade abgestreift hatte, wie ein Halfter, das ihm zu klein geworden war.
Nun konnte sein neues Leben beginnen – und in dem hatte Mano keinen Platz mehr!
„Fragt sich nur, wie ich dich nennen soll“, überlegte Cosimo laut. „Es soll schließlich ein ganz besonderer Name sein. Hm …Es war mein Wunsch, dass wir beide zusammen kommen … Wunsch heißt in meiner Muttersprache Desiderio. Cosimo hatte den großen Wunsch … Cosimo aveva un grande desiderio … Cosimo … Desiderio …“ Seine Miene hellte sich auf. „Jetzt habe ich es.“
Wieder nahm er den Kopf des Esels zwischen seine Hände und sagte feierlich: „Von heute an heißt du Cosidesimo!